Seit Jahren hätte ich gern das blaue Banner mit Lilien von Gracia, dem Stadtteil von Barcelona, wo ich zu Hause bin, um es zur Feier der Festa Major zu hissen. Bis jetzt ist es mir noch nicht gelungen, eines zu erwerben. Aber inzwischen weiss ich, wo es gemacht wird. Mit einem bisschen Glück werde ich im nächsten Jahr eins neben die Flagge von Geesthacht hängen können, die ich in diesem Jahr zum ersten Mal auf einen Mast gezogen habe.
Wie ihr Wappen schon verrät, ist meine Heimatstadt in Norddeutschland ein Ort der Schiffer und Korbmacher. Die erste grosse Liebe meines Lebens war Eberhard, der Fährmann auf der Elbe zwischen Geesthacht und Niedermarschacht. Ich war fünf und über beide Ohren in diesen wunderbaren Mann am Ruder der Fähre verliebt. Auch der Duft von eingeweichten Weidenzweigen in der Werkstatt eines der letzten Korbmacher von Geesthacht findet seinen Weg von meinem fünften Lebensjahr zum heutigen Tag und nährt meine Seele. All das war verdeckt von einer dicken Schicht von Unwohlsein, das mein Leben von Anfang begleitet zu haben scheint. Als ich jung war, gelang es mir durch alle möglichen Strategien, mich darüber hinwegzusetzen. Ab einem gewissen Alter aber wurde das immer schwieriger. Statt weiter zu versuchen, ihm aus dem Weg zu gehen, beschloss ich, mich mit dem Unwohlsein vertraut zu machen und es zu erforschen, um zu verstehen, was mir auf dem Magen liegt, und es langsam verdauen zu können. So kamen dann auch schöne Erinnerungen, wie der Duft in der Korbmacherwerkstatt, wieder zum Vorschein. Erstaunlicherweise entdeckte ich auch eine Verbindung zwischen meinem Unwohlsein und den Dynamit- und Pulverfabriken, der Hauptindustrie von Geesthacht zwischen 1878 und 1945 (mit Ausnahme einiger Jahre nach dem ersten grossen Krieg).
In den Büchern über jene Fabriken, die meine Eltern mir vermacht haben, sprechen Leute darüber, wie wichtig es für sie war, einen Lebensunterhalt verdienen zu können, über die Gelegenheit eine Schulbildung für ihren Nachwuchs zu sichern, über die guten Wohnungen, die ihnen zur Verfügung gestellt wurden, über solcherlei Dinge eben. Keiner sprach davon, was sie darüber empfanden, Substanzen herzustellen, die dazu dienen zu töten, zu verletzen und zu zerstören. Höchstwahrscheinlich hatten sie keinerlei Bewusstsein davon. Auch erwähnte niemand, wie sie sich gegen Ende des zweiten Weltkrieges fühlten, als die Engländer auf der anderen Seite der Elbe waren und den gesamten Ort unter Beschuss hielten. Die Leiter der Fabriken und der Bürgermeister drängten darauf, zu kapitulieren, denn wenn die Sprengmittel- und Pulverarsenale in die Luft gegangen wären, hätte das die totale Zerstörung in einem kilometerweiten Umkreis bedeutet, wie ich später aus einem anderem Buch erfuhr. Trotzdem wurden Schützengraben ausgehoben, um die Stadt "zu verteidigen". Es dauerte Tage bis die Wehrmachtsleitung die Kapitulation zuliess.
Während des zweiten Weltkrieges war mein Grossvater Offizier der Wache der Pulverfabrik. Als ich zur Welt kam, waren gerade mal zehn Jahre vergangen seit dem Ende des Krieges. Es lastete ein tonnenschweres Schweigen auf meiner Kindheit und einem grossen Teil meines erwachsenen Lebens. Möglicherweise gehörte das, worüber nicht gesprochen wurde, in erster Linie zur privaten Sphäre meiner Familie, doch der Ursprung in der kollektiven Gewaltanwendung ist klar ersichtlich. Wenn ich gewisse Vorgänge in meiner Familie im Kontext der Erlebnisse meines Grossvaters während der beiden grossen Kriege und seiner Funktion als Wachoffizier der Pulverfabrik betrachte, werden Zusammenhänge sichtbar, die mein Unwohlsein erklären. Dadurch wird es möglich, Abstand zu nehmen und Stellung zu beziehen. Unterhalb der Bewusstseinsschwelle hingegen werden Trauma, Schuld und Schmerz in Schweigen gehalten und von Generation zu Generation weitergegeben.
Ich brauchte einen Abstand von 2000 km und mehr als 30 Jahre um das Verschwiegene zu verdauen, um zu assimilieren, was fürs Leben nützlich ist, und den Rest auszuscheiden. Ich freue mich, dass ich die Flagge von Geesthacht habe, und bin dankbar, dass sie die Geschichte der Schiffer und Korbmacher meiner Heimat in mir am Leben erhält. Das Unwohlsein klärt sich, solange ich die Wut, Ohnmacht und die Angst erkenne, aus der es besteht, und den Sinn, der sich im Rahmen der Erlebnisse meiner Eltern und Grosseltern daraus ergibt. Ohne diesen Blick ins Innere auf die Empfindungen, die zu den anfänglichen Bedingungen meines Lebens gehörten, weil sie das Empfinden meiner direkten Umwelt beherrschten, wäre ich wahrscheinlich krank geworden und würde durch Unbewusstheit gerade das wiederholen, was ich genau wie jeder andere auch mir gern vom Leib halten würde.
Ich habe es zu meiner Aufgabe gemacht, die köperlichen Empfindungen zu identifizieren, die unter den Bedingungen der anfänglichen Lebensabschnitte entstanden sind und zu grundlegenden Überzeugungen hinsichtlich der Welt, des Lebens und der eigenen Person wurden. Wenn die aus ihnen entstandenen automatischen Verhaltensmuster bewusst erlebt werden, wird es möglich einen Freiraum zu schaffen, der die Möglichkeiten eines schöpferischen Lebens und einer wirksamen Vorbeuge und Gesundheitspflege beträchtlich erweitert.
Unabhängig von der wirklichen Geschichte des blauen Banners von Gracia mit seiner weissen Lilie, die ich ehrlich gesagt gar nicht kenne, ist es für mich die Fahne der Heimat, die mir den Abstand ermöglicht hat, den ich brauchte, um mit meiner Herkunft ins Reine zu kommen. Mal sehen, ob ich als Privatperson eins dieser blauen Banner mit Lilie haben darf, so dass ich zur nächten Festa Major beide Fahnen meiner Heimat hissen kann.
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