Ich bin in Deutschland als Tocher und Enkel von Deutschen zehn Jahre nach Ende des Zweiten Weltkrieges geboren. Ich war dort das erste Vierteljahrhundert meines Lebens ansässig, bis mir klar wurde, dass ich nicht dort bleiben konnte. Ich wusste nicht, was der Grund für das Unwohlsein war, das mich mein Leben lang begleitet hatte; aber es war offensichtlich, dass ich Abstand brauchte, um eine Perspektive zu gewinnen und einen Weg zu finden, der es mir ermöglichen würde, mich in meiner Haut wohler zu fühlen.
Als ich zum ersten Mal in Katalonien ankam, wusste ich gar nicht, dass es die katalanischen Länder und die katalanische Sprache überhaupt gibt. Nach etwa drei Tagen merkte ich, dass die Leute untereinander in einer Sprache redeten, die anders war als die, die ich an der Universität lernte. Solange ich im Fachbereich der Angewandten Sprachwissenschaften in Germersheim studierte, vermied ich es katalanisch zu sprechen, um mich nicht unnötig zu verwirren. Als ich beschloss, nach Katalonien zu ziehen, tat ich es aus Liebe; nicht aus Liebe zu einem Mann –ich lernte meinen Mann erst zwanzig Jahre später kennen-, sondern aus Liebe zu einer Reihe von Leuten, zu einem Land, einem Volk, einer Lebensweise. Dann habe ich auch katalanisch gelernt, auf meine Art und mit Hilfe meiner Freunde. Ich gab mir zwei Jahre, um zu sehen, ob ich in der Lage war, mir meinen Lebensunterhalt hier zu verdienen.
Jetzt lebe ich seit vierunddreissig Jahren in Katalonien, und ich empfinde mich als Katalanin. Ich erfülle die Bedingungen, die das Gemeinrecht für die Zugehörigkeit zur katalanischen Nation erstellt: ich liebe die katalanische Erde, ich lebe von ihr, und ich spreche die katalanische Sprache. Ausserdem bin ich stolz darauf Katalanin zu sein. Ich bin stolz auf die Bereitschaft, Konflikte im Gespräch einer Lösung näherzubringen, die das katalanische Volk kennzeichnet, auf den Willen und die Fähigkeit zur Integration und den Sinn der eigenen Identität. Ich bin dankbar für die Grosszügigkeit, mit der ich aufgenommen wurde. Der entschlossene Geist, der die katalanische Sprache über vierzig Jahre der Diktatur am Leben erhalten hat und sie danach wieder als offizielle Sprache eingesetzt hat, ist in Resonanz mit meiner eignenen Entschlossenheit. Die geistige Beweglichkeit der Menschen, die mehr als nur eine Sprache sprechen, die Kreativität und der Fleiss des katalanischen Volkes regt diese Qualitäten auch in mir an.
Ich konnte nie stolz darauf sein, Deutsche zu sein. Obwohl hier viele mein Deutschtum als eine Art von Gütezeichen ansehen, ist es für mich stets Grund zur Scham. Nach vielen Jahren persönlicher Arbeit habe ich diese Scham als Teil des Unwohlsein erkannt, das auf meiner Kindheit und Jugend lastete. Als ich von der kollektiven Schuld, die das deutsche Volk im sogenannten „Dritten Reich“ erworben hatte, den mir zustehendenTeil anerkannte, fand ich eine Form, die es mir ermöglicht, diesbezüglich Stellung zu beziehen, ohne unter der Last des Schweigens der Anfangsphase meines Lebens unterzugehen, sondern statt dessen die menschliche Natur im Allgemeinen und insbesondere meine eigene zu verstehen. Die deutsche Haltung in der gegenwärtigen Politik ist nun wieder erneut zum Motiv der Scham geworden, aufgrund des Mangels an Verständnis der eigenen Geschichte, die sie zu Tage legt.
Leider ist das Gespenst des faschistischen Nationalismus, vor dem die Gegner des Rechts auf katalonische Selbstbestimmung warnen, tatsächlich vorhanden. Aber es ist der Schatten der eigenen unverarbeiteten Vergangenheit, den diese Leute auf den Prozess der katalonischen Souveränität projizieren, und hat mit der wahren Absicht dieses Volkes, sich von der unhaltbaren Politik des spanischen Staates abzugrenzen, überhaupt nichts zu tun. Wir haben keine Invasion oder Annexion vor, auch will hier niemand andere als Sündenbock für in der eigenen Psyche Verleugnetes aus der Welt schaffen. Es geht auch nicht darum, das wir Schwächeren nicht helfen wollen. Wir sind von Natur aus solidarisch und hilfsbereit; zumindest der grösste Teil des katalanischen Bevölkerung ist es. Wir wollen ganz einfach nur von einer ungerechten und unhaltbaren Behandlung Abstand nehmen. Wenn wir uns nicht darum bemühen, werden wir zu Komplizen der Ungerechtigkeit und der unhaltbaren Politik der spanischen Regierung.
Vor kurzem klärte sich ein blinder Fleck meiner persönlichen Geschichte: während des zweiten Weltkrieges war mein Grossvater Offizier der Wache der Pulverfabrik in Düneberg. In diesem Licht gewann sein Schweigen während der Spaziergänge meiner Kindheit mit ihm eine neue Dimension. Wahrscheinlich waren unsere Wege dieselben, die er auch in Erfüllung seines Dienstes bewachte. Ich fragte ihn nie nach den gesprengten Bunkern mitten im Wald, und er sagte nie etwas darüber. Wir taten so, als wären sie nicht da. Aber ich kann heute noch eine Knoten im Magen spüren, wenn ich daran denke. Dank des Verständnisses, dass ich durch meine innere Arbeit und meinen Beruf als struktureller Integrator, als Praktiker der Somatischen Mustererkennung und als Archetypische Musteranalytiker erreicht habe, weiss ich, dass dieser Knoten ein Reflex der Anstrengung meines Grossvater war, den Wahn, an dem er teilgenommen hatte, aus seinem Bewusstsein fernzuhalten und in Schweigen zu hüllen. Er war nicht fähig, die Schuld und Scham zu ertragen, und so zog sich der Knoten immer enger zusammen und übertrug sich umso stärker auf das kleine Mädchen an seiner Seite.
Ich bin Deutsche, weil ich in Deutschland zur Welt gekommen bin, das ist unabänderlich. Ich nehme die Scham, die das mit sich bringt, auf mich zusammen mit den dazugehörigen Tugenden. Ausser meinem deutschen Pass hätte ich gern auch einen katalanischen. Weil ich zu Katalonien gehöre, gehöre ich nach vierunddreissig Jahren, in denen ich meinen Beitrag zur spanischen Gesellschaft geleist habe, zwangsläufig auch zu Spanien.
Aber ich kann nicht wählen, weil die Spanier mich zwingen, meine deutsche Staatsbürgerschaft aufzugeben, um die spanische zu erhalten; und das scheint mir unmöglich. Ich möchte wählen können in dem Land, in dem ich die volle Länge meines produktives Lebens gelebt habe und welches ich zu meiner Wahlheimat erkoren habe, Katalonien. Ganz besonders möchte ich an einem bindenden Referendum teilnehmen, das dem katalanischen Volk erlaubt, zu entscheiden, ob wir zu Spanien dazugehören wollen oder nicht; und sollte eine Mehrheit das wollen, in welcher Form sie es will.
Ich möchte in einem Land zu leben, das von Menschen regiert wird, die wissen, dass das Leben auf diesem Planeten eins ist, dass wir Menschen ein Teil der Natur sind und dass es unsere Verantwortung ist, sie zu hegen und zu pflegen, und die ihre Politik auf der Grundlage des Respekt für diese Tatsachen entwickeln. Ich möchte in einem Land leben, in dem es eine unabdingliche Voraussetzung für den Zugang zum öffentlichen Amt und Führungspositionen jeglicher Art ist, die innere Arbeit zu leisten, die Strukturen und Dynamiken des eignenen Ichs und seines Schattens kennenzulernen, und zwar mit beiden Hälften des Gehirns. Das ist zwar noch keine Garantie, aber nur so ist es möglich zu verhindern, dass die Projektionen des eigenen Schattens die moralischen und menschlichen Qualitäten, die jede Führungskraft verkörpern sollte, verfinstern. Ich glaube, dass die Bedingungen für die Erschaffung einer solchen Regierung in einem kleinen Land günstiger sind.
Brigitte Hansmann
Barcelona, 6-4-2014
La mateixa carta en català aquí
La misma carta en castellano aquí
The same letter in English here
Ich erhielt eine Antwort von Herrn Dr. Wienberg per email. Der Voll ständigkeit halber kopiere ich ihn hier:
ResponderEliminarDe: Declaración de Barcelona info at declaraciondebarcelona.com
Enviado el: martes, 15 de abril de 2014 21:15
Para: brigitte at ermie.net
Asunto: RE: offener Brief einer gebürtigen Deutschen und Wahlkatalanin
Sehr geehrte Frau Hansmann,
vielen Dank für die Übersendung des links zu Ihrem offenen Brief, der mich sehr beeindruckt hat. Insbesondere die Schilderung Ihrer Erlebnisse mit Ihrem Großvater hat mich sehr betroffen gemacht. Auch mein Großvater sprach nie über das, was er Schreckliches im Krieg erlebt hatte. Er musste nach dem Krieg noch einen weiteren furchtbaren Preis zahlen, nämlich den Verlust seiner so sehr geliebten Heimat in Oberschlesien. Wie doch die Geschichte an uns nagt und das meiste davon wird uns nicht einmal bewusst!
Auf unsere Declaración de Barcelona nehmen Sie nur mittelbar am Ende Ihres Schreibens Bezug, in dem Sie die Ansicht äußern, dass die Bedingungen für die Erschaffung einer guten Regierung in einem kleinen Land Ihnen günstiger erscheinen. Diese Ansicht ist absolut legitim und auch gut vertretbar, obwohl ich persönlich der Ansicht bin, dass eine Teilung nur schwächt und daher sich nachteilig auswirkt.
Es geht aber nicht darum, was gut, besser oder schlecht ist, sondern darum, was rechtmäßig und was rechtswidrig ist und in einem Rechtsstaat ist es einer Minderheit nicht gestattet, gegen die überwältigende Mehrheit des Staatsvolkes, ihre Vorstellungen einseitig durchzusetzen. Hierzu sende ich Ihnen eine sehr gute staatsrechtliche Begründung, die in einem Artikel der Frankfurter Rundschau vom 8. April zu lesen war.
Falls Sie hiergegen einwenden, dass es ungerecht sei, die Katalanen nicht über Ihre Zukunft abstimmen zu lassen, so will ich damit mit Aristoteles antworten:
„Das Recht ist nichts als die in der staatlichen Gemeinschaft herrschende Ordnung, und eben dieses Recht ist es auch, das darüber entscheidet, was gerecht ist.“
Mit den besten Grüßen
Dr. Carlos Wienberg
Das System findet meine Antwort ein bisschen zu lang, also werden Sie sie im Ella Buchenwald Blog finden.
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